Die 1870 gegründete Anthropologische Gesellschaft in Wien (AGW) war maßgeblich an der Institutionalisierung und akademischen Etablierung der anthropologischen Disziplinen in Österreich(-Ungarn) beteiligt. Die Analyse des Verlaufs dieser Entwicklungen erlaubt es, die dem spezifischen Kontext der späten Monarchie und frühen Ersten Republik geschuldeten Besonderheiten der Entwicklung der Anthropologie zu erkennen. Die Spezifika der Entwicklung der anthropologischen Disziplinen in Österreich(-Ungarn) resultieren in erster Linie aus der Zahl der Vertreter der hauptsächlich beteiligten Wissenschaften. Da in der AGW anders als im deutschen Schwesterverein nicht Mediziner, sondern Geologen dominierten, trat bis 1900 die physische Anthropologie stark hinter die Urgeschichtsforschung zurück. Auch die Ethnographie der Völker Österreich-Ungarns und die Ethnologie spielten zunächst eine untergeordnete Rolle; sie wurden ab etwa 1890 stärker durch Vertreter philologischer Disziplinen gefördert. Die vergleichsweise späte akademische Etablierung der physischen Anthropologie und Ethnologie an der Universität Wien – die Prähistorie nahm hingegen eine Vorreiterrolle ein – ist nicht, wie bisher vermutet, auf das Fehlen von Kolonien oder die Ablehnung durch den Staat, der eine Verschärfung der Nationalitätenkonflikte befürchtet habe, zurückzuführen. Vielmehr hinderten vor 1900 gegensätzliche methodische Auffassungen innerhalb der Philosophischen Fakultät die Einführung der Anthropologie als naturwissenschaftliche Einheitswissenschaft. Nach Aufhebung dieser Konflikte erwiesen sich knappe Finanzmittel und die zunehmende Differenzierung zwischen den anthropologischen Disziplinen als Stolpersteine. In der Folge verfügten erst ab 1928 alle drei anthropologischen Fächer über eigene Lehrstühle.